Kategorie: Texte

Dr. Jens-Ole Rey über Jochen Schneider

Nachbilder empfinden wir bei geschlossenen Augen, als Erinnerungen, wenn der ursprüngliche Lichtreiz des konkreten Vor-Bildes bereits abgeklungen ist. Ähnlich verhält es sich mit den Arbeiten von Jochen Schneider – Gesehenes klingt nach und gibt den Anstoß zu seinen Zeichnungen und dann zu Bildern in uns, die jetzt eine eigene, neue Geschichte erzählen – ohne finale Antworten zu geben.

Jochen Schneider widmet seine künstlerische Arbeit der Erkundung und zeichnerischen Aneignung der unmittelbaren Alltagswelt. Dabei geben sinnliche Erfahrungen und Beobachtungen den Impuls – Dinge, Strukturen und Texturen, Erlebnisse und Gefühle. Jochen Schneiders Arbeiten entstehen stets aus Erinnerungen. Erinnerungen sind schwer zu fassen und haben keine materielle Gestalt, sind aber nicht gegenstandslos. Nehmen sie eine visuelle Form an, werden sie zu etwas anderem. Die zugrundeliegenden Bilder, Situationen und Gegenstände werden in völlige Abstraktion aufgelöst. Der Zeichner reduziert, verbindet, ordnet und erfindet neu. Die stets in Graphit angelegten Blätter formieren sich aus transparenten Ebenen von Linien, Schraffuren und verdichteten Flächen, aus denen sich amorphe oder beinahe geometrische Volumina herausbilden und in bildnerische Gestalt verwandeln. Als Zeichen stehen sie in Verhältnissen zueinander und verweisen auf Dinge, die an Bekanntes erinnern. Im Vexierspiel zwischen formaler Behauptung und zeichnerischer Auflösung der Bildmotive entstehen Blätter von höchster Sensibilität.

Dr. Jens-Ole Rey

Wie Welt sich anfühlen kann

Zu den Zeichnungen von Jochen Schneider
 
schschschschschschschschschschschsch
Rauschen.
Sei still jetzt, dann kannst du es hören,
sei jetzt still, dann merkst du auch das Fließen,
Grenzen können durchlässig werden, weißt du nicht mehr?
Nimm dich zusammen,
Konzentration,
wenn du aufmerksam nach innen hörst, ist es dort.
Leises.
rauschschschschschschen
Stilles.
Kratzen vom Bleistift auf Papier.
Gleichmäßiges.
kchchchchchchchchch
Es verlässt dich nicht.
kchchchchchch
Langsames.
Es hört nicht auf.
Fließendes.
Es zieht immer stärker an dir, bis du
kchchchchchchganz voll davon, Grenzen können durchlässig,
du weißt es jetzt wieder,
nur noch darum geht es jetzt,
das Geräusch und du, es saugt dich auf, Bleistiftkratzen auf Papier,
nur Geräusch, Bewegung, rhythmisch,
bis dein Körper langsam ins Papier geschmolzen ist.
Über fließt der Körper ins Papier und drückt dort als Form sich aus. Und zwar als reine Form,
als Form, die keiner Geometrie, keiner Geradlinigkeit mehr gehorchen muss. Ziemlich unförmig geht es zu in Jochen Schneiders Zeichnungen. Oder urwüchsig. Auch unheimlich. Weil so unkonventionell. Weil so schwierig einzuordnen. Weil so eine Nähe ausgeht von ihnen.
Sie rücken regelrecht auf den Leib. Das ist gewollt, denn es geht diesen Arbeiten um Körperlichkeit, um ungezierte, uncodierte Körperlichkeit.
Die Zeichnungen kümmern sich mehr um das Erfassen von Massigkeit – etwa von Ausdehnung im Raum, Gewicht oder Emotion – denn um die Begrenzungen und genauen Proportionen, in denen Körper sich ereignen.
Mit Körper ist nun sowohl der menschliche gemeint, als aber auch all die Dinge der Welt.
Alles, was uns in ihr so begegnet. Das lässt Eindrücke und Abdrücke zurück.
Die Welt der Gegenstände, der Kommunikationen, Begebenheiten, sinnlichen Erfahrungen, Situationen und so fort, hinterlässt Spuren in uns drinnen, die Welt zieht Furchen in uns rein.
Und um diese geht es. Um die Abdrücke der Welt im Ich.
Jochen Schneiders Zeichnungen zeigen, wie Welt sich anfühlen kann, nicht wie sie aussieht.
Nicht Abbild von Wirklichkeit!
Gerade Linien malen kann jeder! Ordentlich und korrekt sein auch!
Stattdessen: Bei Schneider der Versuch, diese Wirklichkeit so nah an sich heran und hinein zu lassen, dass sie im Ich-Filter fast ganz verschwindet, und schlussendlich auf dem Papier nichts mehr von ihr zurück bleibt, denn Impuls, denn Anlass für das Zeichnen selbst zu sein.
Wirklichkeit ist bei Schneider daher immer schon erlebte, angeeignete Welt.
Seine Zeichnungen sind Innenperspektive durch und durch. Das macht sie feindlich und inkommensurabel gegenüber dem Betrachterblick, könnte man meinen. Stimmt aber nicht.
Denn weil bei Schneider vornehmlich über die Sinne Aufgenommenes und gerade nicht psychologische Verworrenheiten zum Ausdruck kommen, und weil seine Formen immer so unbestimmt wie verblasste Erinnerung sind, bleiben sie für ein Gegenüber anschlussfähig.
Das naturwüchsig Sonderbare an diesen Zeichnungen ist somit beides: Ausdruck allernächster Subjektivität und gleichzeitig Angebot, auch Freigabe an den Betrachter zu einer je eigenen Interpretation.
Darin gründet die Offenheit dieser Zeichnungen. Weil sie aber der richtigen Linie, dem korrekten Strich so konsequent abdanken; weil sie es dem Geist verwehren, etwas Eindeutiges in ihnen ausmachen zu können; weil das an Ordnung gewöhnte und ob all der klaren Kategorien phantasielos gewordene Auge auf ihnen so recht eigentlich nichts Richtiges erkennen kann; weil man diese Arbeiten eher erspüren und nicht so sehr verstehen muss – mögen sie für Manchen, nun ja, schwierig sein. Mag das Unprätentiöse an ihnen, ihr fast schon Naives, wie ein Affront gegen das Regelhafte sich ausnehmen. Nur zu! Aber wir wissen es ja besser:
Grenzen können durchlässig werden und die gerade Linie kann jeder.
Leichter und schneller ist der richtige Strich gesetzt, als der, dem erst nachgespürt, für den man erst in die Öffnung sich begeben muss, erst an den Punkt sich bringen muss, da der Körper einfließt ins Papier und den Geist lässt, irgendwo dort, außen vor, wo nur noch Kratzen
vom Bleistift ist auf Papier.
Eintöniges.
Leises.
Langsames.
Rauschen.
 
Konstanze Seifert

draw a line

Die Zeichnungen von Jochen Schneider entstehen aus der Erinnerung. Erinnerungen sind schwer zu fassen. Sie sind nicht gegenstandslos – sie beziehen sich auf sinnlich Wahrgenommenes, haben aber keine materielle Gestalt. Wenn sie eine Form annehmen, müssen sie dabei zu etwas anderem werden. Ein Rückschluss auf die Situationen, Gegenstände und Bilder, von denen Jochen Schneider ausgeht, ist demnach nicht möglich.

Es gibt in den Zeichnungen Ebenen von Linien, Schraffuren und Flächen, aus denen sich Körper herausbilden. Diese können amorph oder eher geometrisch sein und an verschiedene Aspekte der Realität erinnern. Sie stellen niemals sicher benennbare Gegenstände dar. Als zeichnerische Elemente stehen sie in bestimmten Verhältnissen zueinander, darin sind sie Dingen vergleichbar. Man kann sie deutlich voneinander unterscheiden, ihre Position in Bezug aufeinander und evozierte Vorstellungen ihrer Dynamik benennen.

Der Bildraum, in dem sie auftreten, ist nicht nach realen Maßgaben konstruiert. Er läßt sich nicht logisch auflösen. Ansichten, die an Querschnitte durch organische Strukturen, und andere, die an Luftperspektiven erinnern, können gleichzeitig in ihm vorkommen. Es gibt viele Anspielungen auf landschaftliche Darstellungen, die den Eindruck erwecken, man würde irgendeine Art von Außenwelt betrachten; gleichzeitig erscheint diese Welt aber als nicht wirklich betretbare. Je weiter man sich in sie hineindenkt, desto stärker wird das Gefühl, keinen Platz in ihr zu finden. Sie bleibt fragmentarisch und widersprüchlich. Ihre Räumlichkeit scheint sich eher in einem selbst als Betrachter einen Platz zu schaffen und sich auszudehnen.

Es ist also schwer zu sagen, ob das, worauf man schaut, innen oder außen liegt – die Zeichnungen selbst weisen allerdings beharrlich darauf hin, dass man sich bei ihrer Betrachtung vor allem auf einem Blatt Papier befindet. Die Räume, die sich öffnen, verschließen sich immer wieder und kippen in die Fläche. Was auf den Blättern sichtbar wird, besteht aus Linien aus Graphit, die heller oder dunkler sein, Flächen aufbauen und die Illusion von Raum erzeugen können.

Hannah Regenberg, 2013

Statement

Ich zeichne meine unmittelbare Umgebung, meine Alltagswelt. Zu zeichnen stellt für mich eine Möglichkeit dar, mich dieser Umgebung und mich in ihr zu versichern.
Dabei formuliere ich in meinen Arbeiten sinnlich Erlebtes als neu erfundene Bildelemente. Ich reduziere, verbinde, trenne und ordne. Gedachtes und Erinnertes formt sich neu – Metamorphosen entstehen, Eindeutigkeit verschwimmt.